Carolina Redondo. Gravity Matters
Inspiriert durch physikalische Prozesse, deren visuelle Struktur häufig eine geometrische Eigenästhetik besitzt, nutzt und transformiert die chilenische Künstlerin Carolina Redondo den Ausstellungsraum wie ein Experimentallabor. Diese besondere zellulare Situation, bei welcher der Passant und potentielle Ausstellungsbesucher der fortschreitenden Entwicklung ihrer künstlerischen Arbeit von außen beiwohnen kann, weckt Assoziationen an den Blick durch ein Mikroskop in eine Petrischale, in der organische Prozesse von ebensolcher Bedeutung sind wie das Resultat selbst.
Die Verflechtung von bildender Kunst, Forschung und Wissenschaft setzt sich thematisch und inhaltlich in der Ausstellung fort, wie der Titel Gravity Matters bereits erahnen lässt. Gleich einem Parcour bewegt sich der Besucher durch die Räumlichkeiten, dessen Richtung durch die bewusst gesetzten Plastiken im Raum gelenkt wird. Die überlebensgroßen Elemente, deren hölzerne Rahmen mit Tapete verkleidet sind, verhindern den freien Blick in den Showroom. Lediglich die von Hand geschnittenen Aussparungen, die der geometrischen Struktur der Tapeten folgen, gestatten eine partielle Durchsicht und erzeugen einen nahezu dreidimensionalen Effekt. Damit nimmt der Rezipient von Beginn an die Ausstellung multisensuell wahr. Er wird gezwungen, sich sowohl visuell als auch körperlich zu der Architektur und den ausgestellten Exponaten zu verhalten. Um einzelne Arbeiten in der Gänze zu erfassen, ist ein physisches Bewegen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Ausstellungsraumes notwendig. Ebenso wie den Körper lenkt Redondo das menschliche Auge, das stets auf eine neue, von ihr geschaffene, artifizielle Struktur im Raum trifft, die sich von der bestehenden Architektur ornamental abhebt, um sich in nächsten Augenblick optisch mit ihr zu verbinden.
Das Muster als Begriff, ästhetisches Resultat oder physische Formel ist Dreh- und Angelpunkt der Ausstellung. In Anlehnung an die spektakulären Forschungsergebnisse des Physiker Garrett Lisi, dessen Exceptionally Simple Theory of Everything alle Vorgänge und Zustände des Universums beschreibt und wiederum auf den Erkenntnissen des norwegischen Mathematikers Marius Sophus Lie um 1870 aufbaut, präsentiert Redondo mit einfachsten Materialen die komplexe Struktur des mathematischen Konstrukts als raumumspannende Arbeit.
Diese von Lie entwickelte, so genannte E8-Struktur, unglaubliche 248 Dimensionen umfassend und durch Lisi als rein virtuell existente, geometrische Struktur erweitert, überführt die Künstlerin mit transparentem Garn und darauf aufgefädelten, bunten Holzperlen zurück in die räumlich fassbaren drei Dimensionen. Nicht ohne Ironie bedient sich Carolina Redondo der potentiell neuen Weltformel Lisis, indem sie in ihrer Nähe die Fotografie Naufragio en el Paraíso präsentiert. In dieser hängt der Körper der Künstlerin in sonnengelbem Habit – einer Farbe, die Lisi für sein einfaches sechseckiges Muster namens G2 verwendet und nach dessen Vorlage Redondos Raumskulptur angefertigt ist – über dem Stamm einer schiefen Palme vor typischer Strandidylle. Die perfekte Balance, die sich im Modell von Lisi aus der Summe und dem Zusammenhang aller Elemente in der Natur ergibt, kommentiert die Chilenin, indem ihr Unter- und Oberkörper in völliger Ausgewogenheit über der Palme pendeln.
Analog dazu bildet die Fotografie gewissermaßen den Anfangs- und Endpunkt der Ausstellung, da sie als Motiv die Einladungskarte ziert und damit als Erstes dem Betrachter begegnet. Im Zuge des Parcours’ der Ausstellung stellt das Exponat den Schlusspunkt dar, auf das man zuletzt beim Gang durch die Ausstellung blickt.
In der Videoarbeit Party Levitation in Action offenbart sich Redondos performativer Schwerpunkt, der die Basis ihrer künstlerischen Überlegungen darstellt. Üblicherweise bildet ihr eigener Körper das Referenzsystem, mit dem sie häufig bis zur völligen Erschöpfung das Verhältnis von Raum und Zeit erforscht, indem sie z.B. von ihr geschaffene skulpturale Elemente im Raum wieder zerstört. Nun agiert sie erstmals ausschließlich hinter der Kamera und setzt ihr besonderes Interesse an Übergangszuständen, das die körperliche wie materielle Transformation impliziert, in dem Video in einer völlig neuen Art und Weise um. Dafür stellt sie das titelgebende, auf den Antigravitationsforscher Richard LeFors Clark zurückgehende Experiment nach, welches der physischen Anziehungskraft der Erde durch spirituellen Magnetismus entgegenwirkt.
Mit Hilfe einer dokumentierten Anleitung gibt die Künstlerin den fünf Akteuren Anweisungen, die eine sitzende Person durch kollektive Konzentration mit jeweils zwei Fingern pro Person von einem Stuhl mühelos hochheben und für einige Zeit in der Luft halten. Das Experiment dauert nur wenige Minuten; ihm geht eine für den Betrachter nicht sichtbare minutiöse Ausrichtung von Stuhl und Protagonisten voraus. Die Verblüffung auf Seiten des Rezipienten über das Resultat und das damit einhergehende Gewicht des Glaubens an die mentale Überlegenheit gegenüber physikalischen Gesetzen der Schwerkraft, untermalt die Künstlerin durch den Einsatz auf der Tonebene. Die Séance-ähnlichen Szenen, an den entscheidenden Stellen des Konzentrierens und Hebens als Slow Motion und häufig als Close-up gefilmt, sind mit verfremdeten, atmosphärischen Sequenzen aus The Bionic Woman – ein US Serie aus den 1970er Jahren – unterlegt. Mit Wasser gefüllte Rauten aus transparentem Plastik funkeln wie ein diamantener Vorhang vor der Projektion im Raum und sind gleichsam wesentlicher Teil der Videoarbeit. Die vielschichtige Brechung des Lichtes durch die gläsern anmutenden Beutel evoziert ein Schattenmuster an der Wand und vermischt sich mit den Umrissen der Akteure in der Projektion.
Nadia Ismail